Wuchern - Blühen - Nähren -
Schützen
Wenn ich ME/CFS mit einer Gartenpflanze vergleichen sollte,
wäre es wohl der Giersch. Über seine Samen und insbesondere
über seine weißen, langen und tief reichenden Wurzeln breitet
sich das Wildkraut im ganzen Garten aus...
Giersch nervt, weil es eine Dauerbeschäftigung ist, ihn im Zaum
zu halten, damit auch anderes wachsen und Raum haben kann.
Gleichzeitig ist Giersch schön anzusehen und nützlich. Seine weißen Blütendolden sind eine wahre Pracht, er ist eine Nektar- und Raupenfutterpflanze, ein vielseitiges Wildgemüse und wurde in den Klostergärten als Heilkraut geschätzt. Darüber hinaus ist Giersch ein hervorragender Bodendecker, der die Feuchtigkeit auch für die mit ihm wachsenden Pflanzen im Boden hält.
Hat ME/CFS wie Giersch auch gute Seiten? Naja...
Obwohl ich nicht zu den schwer Erkrankten gehöre, fühlt sich
mein Leben komplett von ME/CFS durchdrungen an, was es mir
schwer macht, so wohlwollend darauf zu gucken wie auf den
Giersch in meinem Garten.
Will ich denn wohlwollend auf meine Erkrankung schauen? Ja, das
will ich. Sonst laufe ich Gefahr, genervt, unzufrieden und
frustriert dagegen anzukämpfen. Das will ich nicht. Das kostet
Energie und Lebensfreude.
Ich möchte in Frieden leben
mit meinen Bedingungen.
Wohlwollend betrachtet
wuchert ME/CFS nicht nur wie der Giersch, es gibt auch Blühen -
Nähren - Schützen zu entdecken.
Wohlwollend betrachtet
hat ME/CFS dazu geführt, dass ich mich aus einem weiteren
Blickwinkel intensiv mit den Themen Vergänglichkeit,
Prioritäten, Loslassen, Resilienz, Maß halten und
Selbstfürsorge beschäftige.
Wohlwollend betrachtet
holt mich ME/CFS mehr und mehr aus meinen "Ich-muss",
"Ich-sollte", "Ich-will-aber" in den gegenwärtigen Moment.
Fordert mich auf, bewusst mit meiner Energie und Lebenszeit
umzugehen.
Wohlwollend betrachtet
sorgt ME/CFS dafür, dass ich gar nichts mehr selbstverständlich
nehme, auch nicht die Dankbarkeit, das Staunen und die Freude,
die daraus wachsen.
Wäre das Beschriebene nicht auch ohne ME/CFS meine Entwicklung
gewesen? Gut möglich!
Ich entscheide mich dennoch dafür, Erkrankung und Entwicklung
in einen ursächlichen Zusammenhang zu stellen. Weil es
Versöhnung in mein Leben bringt, weil es mir gut tut.
Wir alle erzählen uns ständig Geschichten, um uns unser Leben,
um uns die Welt zu erklären. Solange wir im Blick halten, dass
wir nicht "die Wahheit" beschreiben, sondern unseren
Tellerrand, solange wir niemandem schaden - auch uns selbst
nicht! -, machen "gute" Geschichten mit Blick auf unsere
psychische Resilienz Sinn.