Zwischen Gestern und Morgen leben die Geschichtensammer:innen.
Schon auf dem Weg in die Welt, bekommen ihre Kinder die ersten
Geschichten geschenkt und jeden Tag kommen neue hinzu. Erlebte,
Erdachte und Erträumte, Gereimte und Gesungene, Vorgelesene und
frei Erzählte.
So fangen die Kinder an, sich selbst und ihre Welt zu
verstehen. Sie erfahren, dass Geschichten nicht weniger werden,
wenn man sie teilt, sondern mehr und sie werden immer wieder an
einen Leitsatz erinnert, der unter den Geschichtensammler:innen
gilt:
„Lass jedem Ende die Chance, ein Anfang zu sein.“
Als die Geschichtensammlerin, von der hier erzählt wird, zehn
Jahre alt war, hatte sie schon viele Geschichten gesammelt.
Einige von ihnen waren von ihr ausgedacht. Zum Beispiel diese:
Die Maus
Es war einmal eine
Maus,
die zog aus ihrer Kellerwohnung
aus.
Sie lebte von Käse und
Kuchen,
trotzdem wollte sie es
einmal
auf eine andere Art
versuchen.
Als sie ein Weilchen gegangen
war,
entdeckte sie ein
Schwalbenpaar.
Die Maus fragte sie: „Wollt ihr
mit mir gehn
und euch in der weiten Welt
umsehen?“
Sie antworteten „Wittwitt,
Wittwitt,
natürlich kommen wir
mit.“
Doch plötzlich eindecken die Drei
eine Katze,
die sich ableckt ihre
Tatze.
Das Schwalbenpaar fliegt flink in
den Baum,
durch das Laub sieht man sie
kaum.
Die Maus rennt so schnell sie
kann nach Haus
und
sagt zu sich: „Du ziehst nie wieder aus!“
Mit zehn Jahren fand die Geschichtensammlerin das Mausgedicht
lustig. Zehn Jahre später fand sie es einfach nur traurig. Wie
konnte das sein? Die Worte und Sätze hatten sich doch nicht
verändert!
Offenbar stimmte, was sie schon oft gehört, aber nie so wichtig
genommen hatte: dass dieselbe Geschichte immer eine andere ist,
dass Geschichten Wandelwesen sind, die sich nach ihren Erlebern
richten.
Mit zehn Jahren, hatte sie in der Geschichte Sicherheit für die
Maus gefunden und sich gut damit gefühlt. Mit zwei mal zehn
Jahren fand sie unerträglich, dass die Maus für alle Zeiten auf
Freiheit und Abenteuer verzichteten wollte.
„Lass jedem Ende die Chance, ein Anfang zu sein“, fiel
der
Geschichtensammlerin ein und Augenblicke später hatte sich ein
neues Ende gefunden:
Die Maus rennt so schnell sie
kann nach Haus
und sagt zu sich: „Du ziehst nie
wieder aus!“
Doch nach fünf, sechs, sieben
Tagen
denkt sie: „Ich werd’s noch mal
wagen“,
schnappt sich ihre sieben
Sachen
und verlässt mit einem
Lachen
ihr Zuhaus
die Maus.
Mit diesem Ende kann die Geschichte zufrieden sein, dachte die
Geschichtensammlerin und war es auch. Die nächsten Jahre freute
sie sich an ihrer neuen Erfahrung und nutze sie. Tausend und
abertausend neue Geschichten fanden den Weg zu ihr und die
Geschichtensammlerin sorgte zuverlässig für sie.
Als sie gut drei Mal zehn Jahre alt war, traten neue
Geschichtensammler:innen in ihr Leben. War sie mit ihnen zur
selben Zeit am selben Ort, gab es hinterher grundverschiedene
Geschichten. Und obwohl die Geschichtensammlerin ja das
Wandelwesen der Geschichten kannte, wurde sie von Mal zu Mal
unsicherer.
Immer öfter standen die Geschichten nicht mehr
nebeneinander sondern einander gegenüber, sie traten in
Wettstreit und die Geschichtensammlerin fing an gegen
Geschichten zu kämpfen anstatt für sie zu sorgen.
Immer öfter ging sie Geschichten aus dem Weg. Mehr und mehr verlor sie den Kontakt zu den Geschichten, die ihr das Leben lieb machten. Und das ist für eine Geschichtensammlerin wirklich schlimm.
Als die Geschichtensammlerin beinahe vier Mal zehn Jahre alt war, traf sie auf Geschichtensammler:innen, die ihr halfen, wieder gut für ihre Geschichten zu sorgen. Für sie erzählte die Geschichtensammlerin von ihrem Winter und von ihrem Frühling:
Winter
Wenn nach langen
Wintertagen
die ersten
Sonnenstrahlen
meine Wangen
streicheln
krieche ich tief in mich
hinein
und nehme das Licht und die Wärme
mit
Dann erst merke ich
wie dunkel und kalt es zuvor
war
und ich spüre einen tiefen
Schmerz in mir
der mit der eingefangenen
Sonne
in Wettstreit
tritt
Ich wünschte
sie würden einander die Hände
reichen
das Kalte-Dunkle und das
Helle-Warme
In mir ist Platz für beide
Frühling
Sanft und klar
berühren Worte, Blicke und
Hände
meinen Körper und meine
Seele
laden mich ein
Bewegung wieder
Ausdruck meines
Lebens
sein zu lassen
Wie durch Zauberhand
füllt sich mein Sein
mit Freude, Kraft und
Lebenslust
wird es in mir
wieder warm und weit und weich
und
vielversprechend
Ich schaue aus dem
Fenster
und sehe:
Es ist Frühling
Mit dem Frühling kam für die Geschichtensammlerin auch das
Wissen zurück, dass Geschichten die Welt nicht nur erklären,
sondern sie auch erschaffen. Dass jede Geschichte eine
Einladung ist, die sie annehmen kann oder auch nicht.
Sie hatte die Wahl.
Und sie traf eine Entscheidung:
Nasenkuss
Plötzlich und unerwartet
steht das Leben
lachend vor meiner
Nase
in einem neuen, unbekannten
Gewand
verlockend und ängstigend
zugleich
Es wäre ein Leichtes
den Kopf ein wenig zur Seite zu
drehen
und den Blick auf Bekanntes zu
richten
Aber das will ich
nicht
dieses Mal
Ich will wissen
warum es so lacht
das Leben
warum es sich mir
vor die Nase
stellt
Ich will kosten
von diesem Lachen
will kosten
von diesem Leben
bis es mir
in Fleisch und Blut
übergeht
(c) Gabriele Helmert (1971 - 2012)